• Januar 14, 2022
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Studie zu psychischen Auswirkungen der Pandemie

Ein Viertel der schwer an COVID-19 Erkrankten entwickelt im Durchschnitt drei Monate nach körperlicher Genesung eine seelische Trauma-Symptomatik, eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Dies ist ein Ergebnis einer der weltweit größten Studien zu den psychischen Auswirkungen der Corona-Pandemie, die fortlaufend von April 2020 bis März 2021 mehr als 30.000 Menschen untersuchte. Welche Bevölkerungsgruppen sich psychisch besonders belastet zeigten, warum depressive Symptome im zweiten Lockdown noch weiter anstiegen und welche Erkenntnisse über Corona-Skeptiker vorliegen, berichten Experten auf einer Pressekonferenz zum Deutschen Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie.

Für die Untersuchung haben Forscher der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen anonym Angaben zu Alter und Geschlecht, zu Symptomen für Depression und Angst, zu negativer Stressbelastung und zum Gesundheitszustand erhoben. „Die Studie stellt damit nicht nur national, sondern auch international eine der größten Untersuchungen zu den psychosomatischen Auswirkungen der Pandemie dar“, sagt Professor Dr. med. Volker Köllner, Präsident des Deutschen Kongresses für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie.

November 2020: Anstieg depressiver Symptome spiegelt den Erschöpfungszustand

Zentrales Ergebnis der Studie: In den verschiedenen Phasen der Pandemie war erhöhter psychischer Distress bei bis zu 65 Prozent, erhöhte generalisierte Angst bei bis zu 45 Prozent, ausgeprägte Corona-Furcht bei 60 Prozent und vermehrte Depressivität bei bis zu 15 Prozent in der Allgemeinbevölkerung nachweisbar. „Dabei stiegen depressive Symptome zum zweiten Lockdown ab November 2020 sogar noch weiter an“, berichtet Professor Dr. med. Martin Teufel, der als Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der LVR-Kliniken Essen die Studie leitet. Dies könne einem zunehmenden Erschöpfungszustand zugeschrieben werden, fügt er hinzu.

„Insgesamt bleibt festzuhalten, dass Angst- und Depressionssymptome zwar erhöht, allerdings in ihrem Schweregrad überwiegend nicht so ausgeprägt sind, dass die diagnostischen Kriterien einer psychischen Erkrankung erfüllt sind.“

Zu den psychisch besonders belasteten Bevölkerungsgruppen zählten Frauen, jüngere Menschen und Personen mit psychischen Vorerkrankungen wie Depression, Angst- oder Persönlichkeitsstörungen. „Ursachen dafür können der Wegfall von sozialen Kontakten, psychotherapeutischen Behandlungen und Aktivitäten sein, die aus depressiven Episoden heraushelfen“, so Teufel. In ihrer Studie identifizierten die Wissenschaftler aber auch Faktoren, die in der Pandemie entlastend wirken. „Wenn Menschen sich über die Pandemie und das Corona-Virus informiert fühlen und das Vertrauen in politische und gesellschaftliche Maßnahmen hoch ist, liegt eine niedrigere psychische Belastung vor“, berichtet der Experte aus Essen.

Bei Corona-Skeptikern ist das Verdrängen besonders ausgeprägt

Eine spezielle Gruppe unter den Befragten zählte zu den Corona-Skeptikern und Corona-Leugnern. „Wir konnten im Zeitraum November 2020 bis Januar 2021 Auskünfte von insgesamt 434 Skeptikern einholen“, sagt Teufel. Diese „doubters“ waren von den Forschern auf Internetforen kontaktiert worden, die sich mit der Nicht-Existenz des Virus und damit verbundenen Verschwörungstheorien beschäftigten. „Bei ihnen lagen die Werte für depressive Symptome und generalisierte Angst deutlich höher als in der Allgemeinbevölkerung“, berichtet Teufel. Die Angst vor einer Corona-Infektion bewegte sich in dieser Gruppe auf demselben Niveau wie in der Allgemeinbevölkerung. Hygienemaßnahmen wurden gleichwohl vermehrt abgelehnt, wie die Befragung ergab.

Wie erklären sich die Wissenschaftler diesen Widerspruch – einerseits Bestreiten der Virus-Gefahr, andererseits verstärkte Ängstlichkeit und ausgeprägte Furcht vor eine Infektion? „Wir alle nutzen Verdrängungsmechanismen, um unsere Psyche stabil zu halten“, erläutert Teufel. „In der Gruppe der Corona-Skeptiker ist das Verdrängen aber besonders stark ausgeprägt, um einer lähmenden Angst auszuweichen. Die andere Bewältigungsstrategie – valide Informationen aufnehmen und verarbeiten – wird negiert.“ Der Wissenschaftler empfiehlt, Emotionen und Überzeugungen dieser Gruppe ernst zu nehmen, um gesellschaftlichen Spaltungen entgegenzuwirken. „Nicht belehren und in eine Verteidigungshaltung drängen“, rät Teufel. „Sondern die Sorgen ernst nehmen und mit evidenzbasierten Informationen die Auseinandersetzung suchen.“

Erlebnis der Intensivbehandlung kann Intrusionen auslösen – Traumabehandlung hilft

Unter den Teilnehmenden der Studie befanden sich auch Personen, die an COVID-19 erkrankten. In dieser Subgruppe machten die Forscher einen bemerkenswerten Fund: Bei jedem vierten schwer Erkrankten, der auf einer Intensivstation behandelt werden musste, stellte sich nach körperlicher Genesung mit zeitlicher Verzögerung eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ein. „Bei diesen 25 Prozent kam es im Mittel ab dem 100. Tag nach erfolgreicher stationärer Behandlung zu einem Anstieg von Trauma-Symptomatik“, berichtet Teufel.

Das massiv bedrohliche Erlebnis, keine Luft mehr zu bekommen, löse bei diesen Patienten im Nachgang sogenannte Intrusionen aus. „Die Intrusion äußert sich wie ein Flashback, mit einem plötzlich einschießenden massiven Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins, des Erlebens von Kontrollverlust“, beschreibt Teufel die Symptomatik. Diesen Patienten könne man eine COVID-19-spezifische Traumabehandlung anbieten – etwa in Form einer angeleiteten Schreibtherapie. „Die einschneidende Erfahrung auf der Intensivstation ist ja unstrukturiert als Emotion im Unterbewusstsein abgespeichert“, erklärt Teufel den Wirkmechanismus einer solchen Intervention. „Durch das Narrativ wird sie ins Bewusstsein geholt, aufgearbeitet und neu strukturiert. So kann der Betroffene wieder die Kontrolle über die Affekte erlangen.“

Kaum körperliche Langzeitfolgen, aber anhaltender „Bodily Distress“

Greifbare körperliche Langzeitfolgen als Folge einer COVID-19-Virus-Infektion sind aus Sicht des Psychosomatikers selten. So wurden in einer interdisziplinär durchführten Nachsorgestudie der Universitätsmedizin Essen mehr als 300 Personen nach unterschiedlich schwer ausgeprägten COVID-19-Erkrankungen untersucht. „Die Patientinnen und Patienten berichteten über unspezifische Symptome wie Schwindel, Kopfweh, Müdigkeit oder Schwächeempfinden“, erläutert Teufel. „Bei weniger als zehn Prozent der Betroffenen konnten medizinisch fassbare Befunde erhoben werden.“ Dabei handelte es sich in den

meisten Fällen um bisher unentdeckte Erkrankungen, die unabhängig von COVID-19 bestehen. „Die Beschwerden hatten in den seltensten Fällen mit der Virusinfektion zu tun“, so Teufel. „Wir sprechen hier von Bodily Distress, einer somatischen Belastungsstörung.“

Auch bei Patienten, die typischerweise nach einer mittelschweren Corona-Infektion anhaltend unter Luftnot leiden, konnten die Mediziner keine organische Schädigung als Langzeitfolge der Viruserkrankung feststellen; Untersuchungen bestätigten eine ausreichende Lungenfunktion. „Die Betroffenen leiden unter Ängsten, die Erkrankung nicht mehr loszuwerden, und atmen deshalb zu viel. Sie befinden sich in einer Art Hyperventilationszustand, der auf die noch nicht wiedergefundene Sicherheit zurückzuführen ist“, so Teufel. Zur Therapie von vermeintlichen Long-COVID-Symptomen empfiehlt der Mediziner daher als erste Maßnahme die Edukation, um Ängste auf ein rationales Maß zurückzuführen: „Die Patienten müssen wissen: COVID-19 macht in der Mehrzahl der Fälle nicht körperlich dauerkrank. Das Wahrscheinliche nach einer Infektion ist die vollständige somatische Genesung.“