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Der Leopard und das Tsessebe

Der Regen trommelt aufs Zeltdach, pladdert auf den hölzernen Steg, der vom Safarizelt zum Hauptweg führt, und rauscht in den Blättern der Bäume. Der Himmel ist eine graue Kuppel. Eigentlich sollte die Regenzeit im Okavangodelta bereits vorüber sein, aber es regnet schon die ganze Nacht.

Dabei hatten wir gestern Abend noch den allerschönsten Sonnenschein. Was wohl die Baumhörnchen, nach denen das Safaricamp Shinde benannt ist, bei diesem Wetter machen? Im Okavangodelta trifft der Fluss Okavango, aus dem angolanischen Hochland kommend, auf die Kalahari-Wüste. Dabei entsteht mit über 20.000 Quadratkilometern Fläche das größte Binnendelta der Welt und eines der tierreichsten Feuchtgebiete Afrikas. Mehr als 120 Säugetier- Arten und gut 440 Vogelarten sind hier zu Hause. Rund 1.300 Pflanzenarten kommen in unterschiedlichen Vegetationstypen vor - von papyrusgesäumten Wasserflächen mit Seerosenteppichen und unzähligen Inseln über Savannen bis hin zu Busch- und Baumlandschaften. Das Okavangodelta ist ein Wirklichkeit gewordener Traum von Safari-Fans und Naturfotografen. Und das auch dann, wenn es regnet. Als wir morgens um sieben in Regenjacken und unter Schirmen zum Frühstück eintreffen, sagt Alex, der Campmanager, etwas von 45 Millimetern Niederschlag binnen weniger Stunden. Ursprünglich wollten wir einen Ausflug im Mokoro unternehmen, dem fürs Delta typischen Einbaum, mit dem man so herrlich lautlos durch die vielen kleinen Kanäle gleiten kann, vorbei an Schilfinseln, Seerosen und - mit etwas mehr Abstand - Nilpferden. Bei Regen ist das allerdings keine gute Idee: Wir werden nass und sehen vermutlich gar nichts, weil Tiere den Regen ebenso wenig mögen und sich verstecken. Also verschieben wir das Unternehmen auf später. Mokoro-Fahrten sind ja nur eine von vielen Möglichkeiten. Man kann auf Pirschfahrt gehen, eine Buschwanderung unternehmen oder mit dem Motorboot die Kanäle des Deltas erkunden - immer abhängig von der Situation und der Jahreszeit. Aus jahre-, teils jahrzehntelanger Erfahrung kennen die Guides das Gebiet und seine tierischen Bewohner bestens.

Unser Guide Relax fährt nicht nur den Safari-Jeep und lässt sich bereitwillig Löcher in den Bauch fragen. Er stöbert auch die Kap-Ohreule auf, die neben dem Jeep auffliegt und dann wieder im hohen Gras verschwindet; er findet den wunderschönen Rappenantilopen-Einzelgänger; er führt uns zu Tsessebes mit Nachwuchs, zeigt uns Kudus und Wasserböcke, und er macht sich mit uns auf die Suche nach Vogelarten wie Streifenliest, Grillkuckuck und Baumhopf (der merkwürdigerweise immer dann unauffindbar ist, wenn man eine Kamera in der Hand hat). Vielleicht hat Relax nach all den Jahren ja eine Art Abkommen mit den Tieren. Jedenfalls gestaltet die Natur an diesem verregneten Morgen das Tagesprogramm selbst - auf wundersame Weise. Relax kommt mit einer ebenso unerwarteten wie begeisternden Nachricht: ein Leopard an einem "kill", nicht einmal einen Kilometer vom Camp weg! Im Nu haben wir die Fotorucksäcke auf dem Rücken, die Kamera in der Hand und eilen zu unserem Safarifahrzeug. Relax steuert den Landcruiser langsam und umsichtig durch die tiefen Pfützen. Nach wenigen Minuten Fahrt stoßen wir auf den Leoparden, der in der Kurzgrassavanne kauert und an seiner Beute herumreißt. Es ist ein Tsessebe, eine Leierantilope, von der bereits die

„Immer wieder hält er an, legt die Beute ab, atmet durch und blickt sich argwöhnisch um.“

Hinterläufe fehlen. Wahrscheinlich hat der Leopard sie in der vergangenen Nacht erlegt, konnte sie anschließend aber nicht gegen die Hyänen verteidigen. Die Räuber könnten die fehlenden Stücke weggeschleppt haben. Das Leopardenmännchen ist groß und kräftig, aber auch für einen ausgewachsenen, bis zu 90 Kilogramm schweren Leoparden ist ein Tsessebe eine schwierige Beute: Die Antilopen können trotz ihres Gewichts von bis zu 130 Kilogramm auf der Flucht Geschwindigkeiten von 70 Stundenkilometern erreichen. In Sachen Geschwindigkeit hatte der Leopard diesmal die Nase vorn, aber das Gewichts-Problem wird ihn noch beschäftigen.

Jetzt wird jedoch erst einmal gefressen - und fotografiert. Relax positioniert das Fahrzeug so, dass alle Passagiere gute Sicht haben, und dann klicken die Kameras. Für eine Viertelstunde, die sich viel länger anfühlt, ist dies das einzige Geräusch neben den Regentropfen, die aufs Dach klopfen. Dann wird der Leopard unruhig. Er würde seine Beute gern in Sicherheit bringen. Aber das stellt ihn vor mehrere Probleme: Erstens ist er schon ziemlich vollgefressen. Zweitens hat er es weit bis zum nächsten geeigneten Baum, auf das er die verbliebenen zwei Drittel der Antilope ziehen könnte, damit kein Fressfeind ihm die Beute streitig macht. Und drittens ist auch ein Zwei-Drittel-Tsessebe ganz schön schwer. Der Leopard steckt in einer Zwickmühle: Frisst er weiter, nimmt zwar das Gewicht seiner Beute ab, aber sein eigenes zu. Und wenn es ihm nicht gelingt, die Antilope vor dem Zugriff von Räubern zu bewahren, könnte er seine Jagdbeute schon bald an Hyänen oder Löwen verlieren. Ein Löwenmännchen haben wir gestern ganz in der Nähe des Camps beobachten können, und wo Beute ist, sind auch die Hyänen nicht weit - zumal sie ja schon wissen, dass es hier etwas zu holen gibt.

Weil Leoparden im direkten Kampf mit Löwen oder Hyänen unterlegen sind, haben sie sich eine besondere Strategie zu eigen gemacht: Sie versuchen, ihre Beute im Geäst von Bäumen in Sicherheit zu bringen - dort, wohin andere Räuber nicht folgen können. Genau dies hat der Leopard nun vor. Er verbeißt sich im Hals des Tsessebe und schleift es Schritt für Schritt durchs nasse Gras. Immer wieder hält er an, legt die Beute ab, atmet durch und blickt sich argwöhnisch um. Eine knappe halbe Stunde müht er sich, zieht und zerrt und schleift und schleppt, dann hat er mit seinem Schatz wenigstens ein kleines Gebüsch erreicht, das ihn den Blicken der Räuber entzieht. Schwer atmend hält er einen Moment inne. Er ist pitschnass, das ganze Fell mit Regentropfen besetzt. Nach einer weiteren halben Stunde kommt er beim ausgewählten Baum an, lässt das Tsessebe fallen, inspiziert den Stamm vom Boden aus - und befindet ihn für untauglich. Das bedeutet: weiter schleppen im strömenden Regen. Wir leiden stumm mit ihm mit und sind hin und weg von dem Schauspiel. Dabei würde die Aufführung ohne uns sicher genauso stattfinden - das ist ja das Schöne.

Noch eine Viertelstunde Schinderei, dann steht der Leopard mitsamt seiner Antilope vor dem nächsten Baum. Aber dessen Stamm erscheint zumindest uns Betrachtern noch deutlich ungeeigneter als der erste, und offenbar kommt auch das Raubtier zu diesem Schluss: Der Leopard beguckt sich den Baum, sieht zu uns herüber, die wir ihm im Safarifahrzeug langsam und mit Abstand gefolgt sind, schüttelt sich die Wassertropfen aus dem Fell, legt sich neben die Antilope und knabbert pro forma ein bisschen daran herum - richtigen Hunger scheint er nicht mehr zu haben. Und dann lagert er sich endgültig bequem und betreibt Fellpflege. Das sieht ganz danach aus, als ob hier zunächst nichts mehr passiert. Also warten wir noch ein Weilchen und treten dann den Rückweg zum Camp an.

Inzwischen ist es Mittag geworden. Es regnet nach wie vor. Und obwohl keiner im Auto so ganz trocken geblieben ist (beim Anfahren schwappt das gesammelte Wasser vom Dach), schwärmen ausnahmslos alle von der Begegnung im Regen. Eine Kontrollfahrt am Nachmittag ergibt: Der Leopard ist mit Verdauen beschäftigt und bewacht nach wie vor seine Beute. Am nächsten Morgen aber sind Raubtier und Antilope spurlos verschwunden. Relax und Alex sagen, sie hätten nachts, nicht weit weg vom Camp, Hyänen gehört.

Sandra Petrowitz

Die Journalistin hat gleich drei ihrer Leidenschaften zum Beruf gemacht: Schreiben, Fotografieren und Reisen. Sie leitet Fotoreisen und Workshops und arbeitet als Guide auf Expeditionskreuzfahrtschiffen in der Arktis und der Antarktis. Botswana gehört zu ihren Lieblingszielen; die Fotoreise im April 2014 ist ausgebucht, der nächste Termin 2015 in Planung. www.sandra-petrowitz.de