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Jetzt werden wir agil
Der digitale Wandel fordert Flexibilität und Agilität von jedem Unternehmer. Doch wo bleiben Stabilität und Struktur? Was wir in Zukunft brauchen ist AMBITEXTRIE.
Ein Interview mit der Dresdner Arbeitspsychologin Dr. Ulla Nagel zu den Herausforderungen des digitalen Wandels in Unternehmen
Frau Dr. Nagel, Sie behaupten, Unternehmen brauchen heute AMBIDEXTRIE?! Was ist denn das?
Dr. Ulla Nagel: Ich habe mit auch erst die Zunge daran zerbrochen. Ambidextrie ist die Lösung für Fragen, die sich viele Unternehmen heute stellen: Müssen wir tatsächlich alle agil werden, um die Zukunft zu meistern? Aber wie bleiben dann Rahmen, Struktur und Stabilität erhalten? Ambidextrie heißt eigentlich „Beidhändigkeit“. Im Zusammenhang mit dem Wandel von Management und Organisationsformen in der digitalen Transformation bedeutet das, dass es nicht um ein „Entweder-oder“, also entweder agil oder klassisch, sondern um ein „Sowohl-als-auch“ handelt. Die SINNVOLLE Art und Weise der Verknüpfung stellt die eigentliche Herausforderung dar.
Ich kenne Führungskräfte, die inzwischen allergisch auf das Wort „agil“ reagieren.
Dr. Ulla Nagel: Das verstehe ich, weil das Management in der Forderung nach „Agilität“ häufig eine Art Wundermittel für die Meisterung der Komplexität und der volatilen Veränderlichkeit der Märkte sieht. Weder aus Angst noch aus Übereifer darf man aber das Kind mit dem Bade ausschütten.
Können Sie genauer beschreiben, wie Sie das meinen?
Dr. Ulla Nagel: Ein sehr hilfreiches Bild haben mir meine österreichischen Kollegen, Gunther Fürstberger und Tania Ineichen, vermittelt: Stellen Sie sich vor, dass unsere Businesswelt bisher auf dem Land stationiert war – was ja auch stimmt. Das Land ist das feste stabile Element, dessen Gesetze wir beherrschen. Nun entsteht durch die digitale Transformation der Druck, ein völlig neues Element zu erobern und sich auch darin meisterlich zu bewegen. Das heißt, wir müssen nicht nur nachjustieren, sondern eine disruptive Veränderung vollziehen. Das neue Element können wir uns als das Wasser, also als das Meer vorstellen. Währenddessen wir an Land Stabilität erreichen, indem wir mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen, würden wir im Wasser auf einem Surfbrett mit der gleichen Haltung keine Sekunde lang Stabilität erzielen. Dort entsteht Stabilität durch ständiges Ausbalancieren, also durch ständiges In-Bewegung-Sein. So etwas völlig Neues zu lernen, ist mühsam. Wir schaffen es nur, indem wir uns immer wieder ans sichere Land zurückbegeben und die Kräfte auftanken. Wer es übertreibt, versinkt in den Wellen. Wer nicht losgeht, bleibt in der Vergangenheit stehen.
Also Agilität und Struktur immer wieder günstig miteinander verbinden?
Dr. Ulla Nagel: Genau. Das ist damit gemeint. Unternehmen benötigen auch in der absehbaren Zukunft noch hierarchische Strukturen und festgeschriebene Prozesse. Führungskräfte werden auch weiterhin Situationen haben, wo sie disziplinarisch Macht ausüben. Aber wo braucht es darüber hinaus das stärkere Eintauchen ins „fluide" Element? Forschung und Entwicklung sind da sicher die ersten, die z.B. von den kreativen, intuitiven Methoden des agilen Toolsets profitieren. Was sich aber tatsächlich als Erstes ändern muss ist, nicht das Toolset sondern das MINDSET, also die Weltsicht und die Werte. Nehmen wir ein Beispiel her: Freiheit und Kontrolle sind bekanntlich einander widerstrebende Ambitionen. Die Freiheit, Dinge nach eigenem Ermessen zu erledigen, verkörpert Wasser und das Bedürfnis, Kontrolle auszuüben, steht für Land. Wenn ich meine Präsenz auf dem Land verkleinere, brauche ich mehr Präsenz im Wasser: D.h., dem Abbau von Kontrolle muss ich etwas Gleichwertiges gegenüberstellen, damit Balance erhalten bleibt. Was könnte das Gleichwertige sein? Aus meiner Sicht ist es die wachsende Selbstverantwortung des Einzelnen. Die neue Balance schaffen Unternehmen also nur, wenn es ihnen gelingt, die persönlichen Werte von Mitarbeitern gleichwertig mitwachsen zu lassen.
Was können Unternehmen diesbezüglich tun?
Dr. Ulla Nagel: Wir raten Unternehmen, zuerst einmal sich darüber klar zu werden, wie Mitarbeiter auf ihrem Surfbrett bestmöglich Orientierung entwickeln können, bevor man sich um das Testen von Surfbrettern kümmert. Hier lehne ich mich noch einmal an Gunther Fürstbergers Modell vom „Agilen Surfer“ an: Das Surfbrett steht für die Tools. Aber das beste Transportmittel kann ich nur dann sinnvoll einsetzen, wenn ich weiß, wohin es mich bringen soll. Hier erlebe ich häufig das größte Defizit in den Firmen. Wer in Strudeln und wogendem Wasser die Orientierung behalten will, braucht einen hell leuchtenden Stern am Himmel. Dieser leuchtende Stern steht für das Zukunftsbild, den Unternehmenszweck und die Grundzüge der Unter- nehmensstrategie, mit denen sich die Mitarbeitenden wahrhaft identifizieren müssen. Identifikation setzt Partizipation voraus. Das bedeutet, dass Visionsarbeit aus den Managementetagen hinaus bis in die Mitarbeiterschaft getragen werden muss. Großgruppenevents ermöglichen die Diskussion über alle Ebenen hinweg. Wer also den leuchtenden Stern in Co-Kreation mit der Belegschaft erschaffen hat, ermöglicht seinen Mitarbeitenden den Freiraum für eigene Entscheidungen, z.B. auch für kleinere strategische Ad-hoc-Kurskorrekturen, die er mitten auf der Welle auch nur allein tun kann.
Das klingt doch sehr komplex und anstrengend.
Dr. Ulla Nagel: Komplex ist es, aber gar nicht so anstrengend. Es kann richtig Spaß machen. Denn nun kommt das „Surfbrett“ ins Spiel: Die frischen flotten agilen Methoden. Die setzen wir auch bereits bei der Suche nach der besten Vision und erfolgversprechendsten Strategie ein. Auch hier gilt Ambidextrie: Bewährte Verfahren wie die Arbeit mit Karten an Pinnwänden werden mit kreativeren Methoden ver- knüpft. Beispielsweise geht hier der Trend zu Post-it’s. Mit der Einsparung von Pinnnadeln an den Wänden bekommt die gemeinsame Arbeit mehr Fluss. Letztendlich geht es auf der Welle genau um diesen Flow, also darum, immer schön im Fluss zu bleiben.
Nun möchte ich doch noch mehr über diese agilen Tools wissen!
Dr. Ulla Nagel: Tatsächlich verstehen viele unter agilen Methoden vor allem nur Scrum. Scrum ist die agile Weise Projektmanagement durchzuführen. Das aber passt nicht überall. Ambidextrie ist auch hier die passende Antwort. Es ist die Frage zu klären, ob mein Projekt mehr auf dem „Land“ oder doch eher im „Wasser“ stattfindet. Bei uns beginnt das Nachdenken über die richtigen Methoden bei der Aus(f)rüstung der Führungskräfte mit einem Führungsstil, der agilen Prinzipien folgt: Man könnte den Stil als Führung auf Augenhöhe bezeichnen. Es ist ein Führen, bei dem auf Machtausübung bewusst verzichtet wird. Motivation steht im Mittelpunkt. Erst dann machen die Tools so richtig Sinn: Beim Nachdenken über Visionen nutzen wir kreative Methoden aus dem Silicon Valley. Um Zukunftstrends vorauszusehen, reicht es nicht vom Heute aus zu denken. Wir müssen uns gedanklich erst in die Zukunft beamen, um von dort aus die nächsten Denkschritte zu vollziehen. Für Strategien verwenden wir u.a. das Business-Modell CAN- VAS. Ziele erarbeiten wir nach der OKR-Technik (objectives and key results), die Google so erfolgreich gemacht hat. Sind komplexere Probleme zu lösen, findet das „Design Thinking“ immer mehr Verfechter.
CANVAS, OKR, Design Thinking - kommen die Mitarbeiter damit ins Trudeln?
Dr. Ulla Nagel: So ging es mir anfangs auch, da in der agilen Welt immer schneller neue Methoden entwickelt werden. Das muss man sich aber spannend und spielerisch vorstellen. Wir spielen Lego, wir begeben uns auf Gedankenreise, wir arbeiten mit bunten Materialien – alles das soll die Kreativität und Intuition unserer Kunden so intensiv wie möglich anregen. Durch Timeboxing (alles hat nur eine begrenzte Zeit und ist nie ausgereizt) erhalten wir den gemeinsamen Flow und verlieren uns nicht in Einzelthemen. Die Methoden sind zum Nachahmen gemacht. Wer sie mit uns kennengelernt hat, setzt sie häufig danach auch selbst ein. Bildlich gesprochen, wird er dabei im Umgang mit seinem Surfbrett immer sicherer.
Wer seine Organisationskultur fit für die digitale Zukunft machen will, ist bei Ihnen also in besten Händen. Vielen Dank, Frau Dr. Nagel.