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Kurt Biedenkopf: Die Zukunft zu vertagen wird teuer
Die Deutschen haben die Probleme ihrer überalterten Gesellschaft lange vor sich hergeschoben. Im Flüchtlingszustrom sieht der Jurist und CDU-Politiker Kurt Biedenkopf Chancen für einen besseren Ausgleich zwischen Alt und Jung - wenn die Integration in Bildungssysteme und Arbeitsmarkt gelingt.
Was haben die demografische Entwicklung in Deutschland, die Erderwärmung,die Flüchtlinge und das Rentensystem gemeinsam? Sie alle stellen uns vor Herausforderungen, die wir schon seit vielen Jahren viel ernster hätten nehmen sollen. In allen vier Punkten stellen wir heute fest: Eine wirklich zukunftsorientierte Politik wurde in der Vergangenheit immer wieder vertagt – mit unangenehmen Folgen für die Gegenwart. Ihre guten Vorsätze hat die Politik oft beschrieben, nicht nur zum Jahreswechsel. Mit feierlicher Geste nahmen wir uns immer wieder vor, uns auf neue Wirklichkeiten einzustellen, unsere bisherigen Antworten auf den Prüfstand zu stellen und Neues zu denken. Weit gekommen sind wir in der Sache aber nicht.
Angst vor Veränderung
Noch immer fällt es uns schwer, von der Nabelschau abzulassen und Wege in die Zukunft zu finden. Jeder sieht sich umgeben von einem Gebirge "erworbener" Besitzstände. Man formuliert sogenannte unverzichtbare Ansprüche – und igelt sich ein in der Grundhaltung, es möge sich am besten nichts ändern, jedenfalls nicht für uns, nicht jetzt.Über Jahrzehnte hinweg ist den Deutschen auf diese Art nach und nach die Wirklichkeit aus dem Blickfeld geraten. Inzwischen haben sich die Realitäten massiv verändert. Und weil wir nicht vorbereitet sind, erleben wir den Wandel umso mehr als gefährlichen Umbruch. Viele verlieren die Orientierung, viele bekommen Angst. Beunruhigt sind nicht zuletzt viele Menschen aus älteren und mittleren Jahrgängen, die jetzt um die Stabilität der ihnen versprochenen Rente fürchten. Land und Leute erfahren eine unangenehme Lektion: Je länger wir das Kommende ignorieren, umso teurer wird seine verspätete Bewältigung.Denn in der Regel wachsen die Kosten im Quadrat zur verlorenen Zeit.
Mehr Alte, weniger Junge
Nirgends ist der Widerspruch zwischen der Evidenz der neuen Wirklichkeit und ihrer vertagten Gestaltung deutlicher als bei der demografischen Entwicklung in Deutschland. Wie in den meisten europäischen Staaten setzte sie in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre ein. Was zunächst – auch zur Schonung bestehender Strukturen – als konjunkturelles Phänomen abgetan wurde, entpuppte sich als permanenter Umbruch mit langfristigen, weitgehend berechenbaren Folgen. Nach der Zeit der „Babyboomer“ (der geburtenstarken Jahrgänge) beginnt die deutsche Bevölkerung zu altern. Das Medianalter der Deutschen (die Hälfte ist älter, die Hälfte ist jünger) nimmt zu. Von 1990 bis 2012 stieg es um 7,4 Jahre. Aus der Bevölkerungspyramide 1950 entwickelt sich bis 2050 ein Bevölkerungsbaum mit schlankem Stamm und üppiger Krone. Betrug der Anteil der unter 20-Jährigen an der Bevölkerung im Jahre 1950 noch 30 Prozent, waren es im Jahre 2000 nur noch 21 Prozent. Im Jahre 2050 wird der Anteil gerade einmal rund 15 Prozent betragen. Der Anteil der mindestens 65-Jährigen dagegen stieg und stieg: von 10 Prozent im Jahr 1950 auf 17 Prozent zur Jahrtausendwende und auf mittlerweile rund 30 Prozent. Dazwischen rangiert die Bevölkerung im Alter von 20 bis 64 Jahren. Ihr Anteil betrug im Jahre 1950 62 Prozent, im Jahre 2050 werden es noch 52 Prozent sein.
Überforderte „Mitte“
Würden künftig mehr von ihnen mit 63 oder jünger „in Rente“ gehen, würde die erwerbstätige Bevölkerung zu einer Minderheit. Aber können wir uns das leisten? Die erwerbstätige Mitte muss schließlich alles leisten: Sie muss die volkswirtschaftliche Wertschöpfung erbringen und zugleich für die Jungen und die Alten sorgen. Obwohl die demografischen Umbrüche sich weitgehend voraussehbar vollzogen haben, ist es bis heute nicht gelungen, für das „soziale Netz“ eine der demografischen Wirklichkeit entsprechende neue Ordnung zu schaffen.Zwar wurde zunehmend deutlich, dass wir es mit einer dauerhaften Veränderung der demografischen Wirklichkeit zu tun haben. Gleichwohl scheiterten alle Versuche, für die neue Wirklichkeit eine neue rechtliche und zugleich sozial gerechtere Ordnung zu schaffen:mit mehr Gestaltungsfreiheit für den Einzelnen und mehr Sicherheit für diejenigen, denen die Voraussetzungen für eigene Vorsorge fehlten.Dabei bot sich mit dem Zusammentreffen der Berufstätigkeit geburtenstarker Jahrgänge und ihrer noch aktiven Eltern eine geradezu ideale Chance, den Übergang vom bestehenden zu einem neuen Alterssicherungssystem zu vollziehen, ohne die aktive Bevölkerung zu überfordern.
Reparaturen statt Reform
Diese Chance besteht heute nicht mehr. Die nachfolgenden Kohorten sind zu klein, um eine doppelte Last zu tragen. Sie werden dazu auch nicht bereit sein. Deshalb muss heute ein Flickwerk an Reparaturen des bestehenden Systems die eigentlich notwendige Reform ersetzen. Vor diesem Hintergrund bedeuten die gegenwärtigen Flüchtlingsströme, die die Europäische Union und besonders Deutschland zum Ziel haben, nicht nur Lasten, sondern auch Chancen. Die Zugewanderten und ihre Kinder bieten die Aussicht, das demografische Ungleichgewicht zwischen Jung und Alt längerfristig zu verringern. Von der Erkenntnis dieser Möglichkeit bis zur Wirksamkeit einer entsprechenden Politik ist es jedoch ein weiter Weg. Auch hier fällt es uns schwer, uns an Erfahrungen zu erinnern und sie zu nutzen. Dabei sollten wir bereits doppelt dazugelernt haben: erstens durch die deutsche Einheit, zweitens durch die massiven Zuwanderungen von Arbeitskräften aus der Türkei in die frühere Bundesrepublik.
Aufgaben für Jahrzehnte
Die erste Erkenntnis lautet: Wir brauchen Zeit. Niemand sollte die bevorstehenden Aufgaben unterschätzen. Wie nach der Wiedervereinigung gilt heute: Wir schaffen das, wenn wir uns alle gemeinsam anstrengen. Aber wir schaffen das nicht so, wie es sich die Bequemen wünschen. Die anstehenden Umwälzungen werden uns jahrzehntelang beschäftigen – demografisch, sozial und auch kulturell. Forderungen nach zügiger Integration werden schnell erhoben. Integration kann aber nicht die völlige Unterwerfung unter unsere abendländische Kultur bedeuten. Falls sich eine auch religiöse und kulturelle Assimilation ergibt, in der Regel in der zweiten oder dritten Generation, muss der Weg dorthin ein selbst gewählter Weg bleiben.
Vertagung rächt sich
Rasche Integration kann aber erwartet werden bei Aneignung der deutschen Sprache, bei Akzeptanz der Grundlagen unserer Rechtsordnung,vor allem jedoch durch eine brauchbare Ausbildung und die Teilhabe am Wirtschafts- und Arbeitsprozess. Gelingt die praktische Integration in den deutschen Alltag, können wir auch eine Entlastung des sonst weiter zunehmenden demografischen Ungleichgewichts erwarten.Hier trifft sich unser langfristiges demografisches Interesse mit dem langfristigen ökonomischen Interesse der Flüchtlinge und ihrer Kinder.Auch in der Integrationsfrage gilt: Die zukunftsgerichtete Politik muss sofort angegangen werden, eine Vertagung rächt sich auch hier.