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Die Koronare Herzkrankheit

Interview mit Prof. Dr. med. Bernhard Schwaab, Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Deutschen Herzstiftung, Kardiologe und Chefarzt der Curschmann Klinik am Timmendorfer Strand.


Millionen von Menschen leiden an Verengungen der Herzkranzgefäße. Allein in Deutschland werden jährlich rund 665.000 Patienten wegen einer koronaren Herzkrankheit (KHK) in Krankenhäuser eingeliefert. Bei dieser Erkrankung kommt es infolge einer Verengung der Herzkranzgefäße zu einer Mangeldurchblutung des Herzens, im schlimmsten Fall führt sie zum Herzinfarkt und zur Herzschwäche. Die KHK zählt zu den bedeutendsten Ursachen für Invalidität und Tod.

 

Wenn man Verwandte, Freunde, Bekannte oder auch Leute, die man zufällig trifft, fragt: „Haben Sie schon einmal etwas von koronarer Herzkrankheit gehört?“, dann sieht man ratlose Gesichter.
Prof. Schwaab: Ja, mit koronarer Herzkrankheit wissen die meisten nichts anzufangen. Das ist schwer zu verstehen, denn die koronare Herzkrankheit ist weit verbreitet. In Deutschland leiden an der koronaren Herzkrankheit nach Berechnungen des Robert Koch-Instituts rund 5,5 Mio. Menschen. Allein in 2009 mussten fast 665 000 Personen deswegen im Krankenhaus behandelt werden. 59 100 starben 2010 am Herzinfarkt. Dass der Herzinfarkt eine Folge der koronaren Herzkrankheit ist, ist offenbar wenig bekannt.

 

Der Herzinfarkt wird als Schicksalsschlag empfunden – ein Ereignis, das plötzlich und unerwartet die Menschen aus heiterem Himmel trifft. Tatsächlich wird behauptet, dass ungefähr der Hälfte der Herzinfarkte keine Beschwerden vorausgegangen sind.
Prof. Schwaab: Wenn man die Patienten nach einem Herzinfarkt genauer fragt, hatten die meisten bereits vorher Beschwerden, aber diese verdrängt. Alle hatten eine koronare Herzkrankheit. Man muss das Gesamtbild sehen. Die koronare Herzkrankheit ist eine Erscheinungsform der Arteriosklerose, der Gefäßverkalkung, die alle Gefäße befallen kann, nicht nur die Herzkranzgefäße, sondern auch die Arterien im Gehirn, in den Nieren, in den Augen oder die großen Arterien im Bauch und in den Beinen. Die koronare Herzkrankheit ist die Form der Arteriosklerose, die am häufigsten auftritt. Sie entsteht in einem schleichenden Prozess, der lange unbemerkt sich über Jahrzehnte hinweg entwickelt, bevor sich die ersten Beschwerden durch Brustschmerzen und/oder Atemnot bei körperlicher oder seelischer Belastung zeigen.

 

Was ist die Ursache dieses schleichenden Prozesses?
Prof. Schwaab: Alter, Vererbung, Umwelteinflüsse wie Luftverschmutzung und starke Lärmbelastung spielen eine Rolle. Aber die Hauptursache ist unser Lebensstil. Wissenschaftliche Studien haben schon vor Jahren gezeigt, dass in der Größenordnung von 80 bis 90% Herz- und Gefäßerkrankungen durch einen falschen Lebensstil bedingt sind. Die INTERHEART-Studie 2004, die fast 30.000 Patienten in 52 Ländern untersuchte, kam zu dem Ergebnis, dass 90% aller Infarkte durch einen ungesunden Lebensstil erklärt werden können, und zwar bei Männern und Frauen. Interessant ist, dass koronare Herzkrankheit und Herzinfarkte sich in Schwellen- und Entwicklungsländern rasant ausbreiten, sobald der Lebensstil westlicher Industrienationen übernommen wird. Neulich hat ein Kardiologe aus Nepal unsere Klinik aufgesucht, um Rat zu holen, wie man diesem Trend in Nepal entgegenwirken kann.

Was ist falsch an unserem Lebensstil?
Prof. Schwaab: Die Ernährung, der Mangel an Bewegung, Stress – und besonders schwerwiegend: Rauchen. Unsere Ernährung ist fleisch-, wurst-, fast-food-lastig, voller leerer Kohlehydrate in Weißmehlprodukten, Zucker, Softdrinks, Süßigkeiten. Hauptproblem ist, dass viele mehr Kalorien aufnehmen, als der Körper braucht. Der beliebte Slogan "Esst nach Lust und Laune. Der Körper weiß schon, was er braucht" trifft nicht zu. Was er nicht braucht, wird als Fettpolster angesetzt. Das Übermaß an Kalorien führt zum bauchbetonten Übergewicht mit allen negativen Folgen: Blutzucker, Blutdruck, Blutfette steigen an, ebenso wie die Entzündungswerte im Körper. Vor allem Kohlehydrate, die schnell in das Blut abgegeben werden, wie Zucker und Weißmehlprodukte, sind eine wesentliche Ursache, warum das bauchbetonte Übergewicht so zunimmt. In Deutschland sind 67% der Männer, 53% der Frauen übergewichtig. Schweres Übergewicht findet sich bei 23% der Männer und Frauen. Besorgniserregend ist, dass die Zahl u?bergewichtiger Kinder und junger Erwachsener ständig zunimmt.

 

Dass Übergewicht immer mehr zunimmt, hängt sicher mit dem Mangel an Bewegung zusammen.
Prof. Schwaab: Ja, wir arbeiten heutzutage meist sitzend am Schreibtisch und fahren mit dem Auto nach Hause. Abends sitzen wir vor dem Fernseher oder beschäftigen uns mit Computerspielen, lesen und surfen im Internet. Das heißt, im normalen Tagesablauf kommt körperliche Aktivität kaum vor. Abgesehen von einer gar nicht so geringen Minderheit, die sich sportlich betätigt, ist der Mangel an Bewegung in unserer Gesellschaft dramatisch.

 

Und was ist mit Stress?
Prof. Schwaab: Stress gehört zum Leben. Aber Dauerstress macht krank, führt zu Bluthochdruck, zu zunehmender Erschöpfung, zum Verlust der Kommunikationsfähigkeit, zu Schlaflosigkeit mit schwerwiegenden Folgen. Stress ist ein Risikofaktor für die koronare Herzkrankheit, das ist heute unbestritten. Besonders betroffen sind Menschen mit niederem Einkommen und schwieriger sozialer Stellung. Durch die schnellen gesellschaftlichen Umbrüche hat sich die Situation verschärft: Die Arbeit wird immer mehr verdichtet, der Konkurrenzdruck ist groß, vielfach gibt es keine klare Trennung mehr zwischen Arbeit und Freizeit. Die Globalisierung, die immer neuen Krisenszenarien lösen Unsicherheit aus: Angst vor Arbeitsplatzverlust, große Zukunftsängste, die tief in die Familien hineinwirken.

 

Was kann ein gesunder Lebensstil den heutigen Lebensgewohnheiten entgegensetzen?
Prof. Schwaab: Mittelmeerküche, regelmäßige Bewegung, kluger Umgang mit Stress, Aus für das Rauchen.

 

Warum Mittelmeerküche?
Prof. Schwaab: Die Mittelmeerküche hat in vielen Studien bewiesen, dass sie die Gefahr für einen Herzinfarkt deutlich senken kann. Natürlich handelt es sich nicht um die Pizza-Pasta-Küche. Wenn einer klagt: „Ich habe immer Spaghetti mit Tomatensauce gegessen und bin trotzdem krank geworden“, so braucht er sich nicht zu wundern. Die Mittelmeerküche, wie sie die Herzexperten empfehlen, ist eine Ernährung, die charakterisiert ist durch viel Gemüse, Salat, Obst, wenig Fleisch, eher Fisch, Oliven- und Rapsöl, Kräuter und Gewürze. Sie stammt aus der traditionellen Küche der Länder rund ums Mittelmeer, wo sie sich seit Jahrhunderten bewährt hat. Durch ihren Geschmacksreichtum, die Fülle der Aromen, lässt sie die heute übliche Küche oder Fast Food weit hinter sich. Sie bringt Lebensfreude in den Alltag.

Gilt das Mehr an Lebensfreude auch für Bewegung?
Prof. Schwaab: Allerdings, das ist so. Nur: Den Alltag zu ändern, anders zu kochen und täglich Zeit für mehr Bewegung zu finden ist nicht einfach. Aber die Anstrengung lohnt sich. Schon 30 Minuten Ausdauerbewegung an den meisten Tagen der Woche (z. B. flottes Gehen, Radfahren, Joggen, Schwimmen) bringen viel. Die körperliche Leistungsfähigkeit wird verbessert, der Herzmuskel ist besser durchblutet, das Gewicht wird günstig beeinflusst, erhöhte Blutdruckwerte werden gesenkt. Leidet man schon an einer koronaren Herzkrankheit, wird ihr Fortschreiten gebremst. Wer herzkrank ist, muss allerdings seine Belastbarkeit vorher vom Arzt bestimmen lassen. Auch Menschen mittleren Alters, die lange nicht wirklich körperlich aktiv waren, sollten sich vor Aufnahme einer intensiven Ausdauerbewegung ärztlich untersuchen lassen. Wir sehen es bei unseren Patienten: Durch tägliche Ausdaueraktivitäten hat man einen schnellen Zugewinn an Lebensqualität. Man wird leistungsfähiger und fühlt sich wohl. Übrigens ist Ausdauerbewegung ein ausgezeichnetes Mittel, um Stress abzuschütteln.

 

Sie sprachen vom klugen Umgang mit Stress. Was meinen Sie damit?
Prof. Schwaab: Wichtig ist, sich selbst nicht als hilfloses Opfer der Umstände zu sehen und zu resignieren. Öfter als man glaubt, kann man die Stresssituation entschärfen. Vielleicht ist es möglich, sich beruflich zu verändern, man kann privat neue Weichen stellen, z. B. in dem man bei Dauerkonflikten in der Familie sich psychotherapeutisch beraten lässt. Ist die Stress auslösende Situation nicht zu ändern, kann man lernen, mit Stress umzugehen. Gefährlich wird Stress erst, wenn Entspannung nicht mehr möglich ist. Auf den Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung ist der Mensch angewiesen. Bei Stress helfen nicht nur körperliche Ausdaueraktivitäten, sondern Entspannungstechniken wie progressive Muskelentspannung, autogenes Training, Qigong, Tai-Chi, Yoga oder Ähnliches. Zur Entspannung kommt man auch, wenn man sich Aktivitäten widmet, die einen so erfüllen, dass man die Stressbelastung vergessen kann, zum Beispiel: musizieren, malen, singen, tanzen, sich mit Freunden treffen, mit ihnen ins Kino, zum Fußball, ins Theater oder in Konzerte gehen und danach darüber diskutieren.

 

Das alles klingt erfreulich. Bitter aber wird es, wenn man abnehmen oder vom Rauchen loskommen soll.
Prof. Schwaab: Beides ist sehr schwierig, verlangt Disziplin, Durchhaltevermögen, auch Verzicht. Abnehmen ist nur erfolgreich, wenn es mit Ausdauerbewegung verbunden wird und es ganz langsam geschieht. Der Gewichtsverlust sollte ein Kilo im Monat nicht übersteigen, denn der Körper braucht Zeit, sich an die geringere Kalorienzufuhr zu gewöhnen. Wie man die Kalorien verringert, ist unerheblich. Ob mit weniger Kohlehydraten oder weniger Fett, die Ergebnisse sind im Langzeitverlauf gleich. Die Mittelmeerküche ist auch beim Abnehmen vorteilhaft, weil sie durch die vielen Ballaststoffe länger sättigt. Vor allem aber schützt sie das Herz und die Gefäße.

 

Was raten Sie Patienten, die das Rauchen aufgeben wollen?
Prof. Schwaab: Es gibt kein Patentrezept. Wichtig ist eine hohe Motivation, d.h. Entschlossenheit. Auch hier hat körperliche Aktivität unmittelbar positive Wirkung. Es gibt zum Beispiel das Programm „Rauchfrei“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, an dem viele Tausende erfolgreich teilgenommen haben. Manchmal erleichtern Nikotinpflaster vom Rauchen loszukommen. Nach einem Herzinfarkt, einer Bypass-Operation fällt das Nichtrauchen leichter, weil jetzt die Folgen des Rauchens unmittelbar spürbar sind. Wenn man es schafft, halbiert sich das Risiko für einen Herzinfarkt. Auch das Risiko für Lungenkrebs und andere Erkrankungen wird deutlich reduziert.

Für ein gesundes Leben interessiert man sich allenfalls im mittleren Alter.
Prof. Schwaab: Das ist spät, aber es ist immer sinnvoll, sich zu einem gesunden Lebensstil zu entschließen. Am besten sollte der gesunde Lebensstil mit der Geburt, ja bereits im Mutterleib, beginnen. Unsere heutigen Lebensgewohnheiten gefährden schon die Kinder. Eine niederländische Studie (van Emmerik et al. 2012) hat gezeigt, dass mehr als die Hälfte der untersuchten schwer übergewichtigen Kinder unter 12 Jahren einen oder mehr Risikofaktoren für koronare Herzkrankheit aufwiesen, am häufigsten hohen Blutdruck. Wer jahrelang ungesund lebt, rutscht in die Risikokrankheiten hinein, die zur koronaren Herzkrankheit und zum Herzinfarkt führen: Bluthochdruck, hohes Cholesterin, Diabetes. Dann reicht – so wichtig er ist – ein gesunder Lebensstil nicht mehr aus. Diese Risikokrankheiten müssen meist mit Medikamenten behandelt werden. Je früher sie entdeckt werden, desto besser.

 

Wann sollte man anfangen, die Risikofaktoren zu überwachen?
Prof. Schwaab: Das hängt von der speziellen Situation jedes Einzelnen ab. Sind Bluthochdruck, Diabetes in seiner Familie häufig aufgetreten? Haben Eltern, Großeltern früh einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten? Im Allgemeinen wird empfohlen: Ab 40 sollte der Blutdruck einmal jährlich, ab 50 einmal halbjährlich gemessen werden, weil der Blutdruck in diesem Alter plötzlich ansteigen kann. Cholesterin und Blutzucker sollten ab 40 durch Laboruntersuchungen bestimmt werden. Bei Patienten mit genetischer Belastung, auch bei übergewichtigen Kindern und Erwachsenen kann das zu spät sein, weil Diabetes und hoher Blutdruck sehr früh auftreten können. Die Devise heißt: Jeder sollte möglichst früh seine Risikofaktoren kennen.

 

Was nutzt die Früherkennung der Risikofaktoren?
Prof. Schwaab: Es ist bekannt, dass der Bluthochdruck in der Hälfte der Fälle unbehandelt bleibt, obwohl die Patienten ihren hohen Blutdruck kennen. Aus Angst vor Nebenwirkungen werden verordnete Medikamente nicht eingenommen oder die Therapie abgebrochen. Damit gehen Patienten ein hohes Risiko ein. Sie verzichten darauf, den Prozess zur koronaren Herzkrankheit und zum Herzinfarkt aufzuhalten. Treten unangenehme Nebenwirkungen der Medikamente auf, sollte man mit dem Arzt sprechen, der eine Therapie wählen kann, die besser verträglich ist.

 

Kann man mit der Einnahme von ASS (Acetylsalicylsäure) das Herz schützen?
Prof. Schwaab: Da muss man unterscheiden. Solange eine koronare Herzkrankheit nicht festgestellt wurde und das Risiko für einen Herzinfarkt nicht hoch ist, wird wegen des Blutungsrisikos die Einnahme von ASS nicht empfohlen. Aber bei koronarer Herzkrankheit vermindert ASS 100mg täglich das Risiko für einen Herzinfarkt so deutlich, dass auf eine Einnahme von ASS, oder bei Unverträglichkeit von Clopidogrel, nicht verzichtet werden kann.

 

Auch wenn man das Risiko kennt, fällt es schwer, daraus Konsequenzen zu ziehen. Die meisten Menschen sagen sich: "Ich fühle mich wohl. Warum soll ich meine Lebensgewohnheiten ändern? Nur um etwas länger zu leben? Die Zukunft liegt sowieso im Dunkeln."
Prof. Schwaab: Wer so denkt, verpasst die Chance, sich vor Herzinfarkt, Herzschwäche, Schlaganfall mit ihren fatalen Folgen zu schützen. Die Gefahr ist dann groß, dass man sich jahrelang mit Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Atemnot und Schmerzen herumplagt und ertragen muss, dass die Lebensqualität stark eingeschränkt ist. Es kommt nicht nur darauf an, durch einen gesunden Lebensstil und konsequente Behandlung der Risikofaktoren lange zu leben, sondern lange gut zu leben. Das heißt: Lebensqualität auf Dauer ist das Ziel. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass ein gesunder Lebensstil mit Mittelmeerküche, mehr Bewegung und Entspannung durchaus in der Lage ist, nicht nur in der fernen Zukunft, sondern jetzt in der Gegenwart Abwechslung und Lebensfreude in den Alltag zu bringen.

Interview: Dr. Irene Oswalt, Deutsche Herzstiftung e.V.

Mehr Informationen zum Thema:

Das Interview ist in gekürzter Fassung dem Ratgeber der Deutschen Herzstiftung "Herz in Gefahr – Koronare Herzkrankheit erkennen und behandeln" (136 S.) entnommen und für 3,- Euro (für Versand) erhältlich bei der Deutschen Herzstiftung e. V. unter www.herzstiftung.de/Koronare-Herzkrankheit-Sonderband.html oder Tel. 069 955128-0.


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