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Gefahr für das Auge in den Genen
Beim tiefen Blick in die Erbsubstanz zeigen sich neue Behandlungsmöglichkeiten für Augenkrankheiten
Forscher um Professor Dr. med. Hanno J. Bolz, (Institut für Humangenetik in Köln und Bioscientia Zentrum für Humangenetik, Ingelheim) haben kürzlich eine bisher unbekannte Mutation im menschlichen Gen PEX6 gefunden. Sie verursacht eine Erkrankung, bei der es neben der Seh- und Hörstörung auch zu Zahnschmelzdefekten kommt. Die Identifizierung der dafür verantwortlichen Gene kann neue Behandlungsperspektiven eröffnen.
Durch welche technischen Mittel sind Gendefekte als Ursache für Augenkrankheiten erkennbar geworden?
Bolz: Noch in den 1990er Jahren war die Identifizierung eines neuen Gens für eine Augenerkrankung mit immensem zeitlichen und finanziellen Aufwand verbunden. Ganze Arbeitsgruppen verbrachten Jahre damit, und nicht jedes dieser Projekte war schließlich von Erfolg gekrönt. Vor etwa zehn Jahren wurden neue Techniken zum Lesen des Erbmaterials (DNA) entwickelt, die zuvor undenkbare Hochdurchsatzanalysen ermöglichen. Die Entschlüsselung des gesamten menschlichen Erbguts (=Genom) im Humanen Genomprojekt dauerte 13 Jahre und kostete ca. drei Milliarden Dollar. Heute kann das Genom eines Menschen innerhalb weniger Tage zu Kosten von einigen 1.000 Dollar gelesen werden. Die neuen Lese- bzw. Sequenziertechniken, allgemein unter next-generation sequencing (NGS) zusammengefasst, führten auch bei der Erforschung genetisch sehr heterogener Augenerkrankungen zu einem raschen Wissenszuwachs. Es werden jetzt quasi ständig neue Gene beschrieben, die dann Rückschlüsse auf den Krankheitsmechanismus erlauben. Damit verbunden ist die Hoffnung, dass dies auch in einigen Fällen therapeutische Ansatzpunkte liefern wird. Außerdem finden neu entdeckte Krankheitsgene jetzt schnell Eingang in die Diagnostik. Ausgangspunkt unseres Projekts war eine ägyptische Familie, in der zwei Kinder die ungewöhnliche Kombination von Hörstörung, Netzhautdegeneration und Zahnschmelzdefekten, für die bisher keine Ursache bekannt war, aufwiesen. Wir haben uns hier des Arsenals neuer Techniken bedient: Zunächst wurden durch eine „genetische Kopplungsanalyse“ die Bereiche im Erbgut identifiziert, in denen der Gendefekt liegen konnte. Das reduzierte den Teil des Genoms, in dem wir suchen mussten, erheblich. Dann führten wir bei einem der Geschwister eine Analyse aller menschlichen Gene durch. Dabei fiel eine verdächtige Veränderung im PEX6-Gen auf, die auch beim betroffenen Geschwisterkind vorlag und dazu in einer der vorher definierten „Kandidatenregionen“ des Genoms lag.
Wie hoch ist der prozentuale Anteil der von ihnen entdeckten, durch genetische PEX6-Mutationen verursachten Augenkrankheiten in Deutschland?
Bolz:Das lässt sich aktuell nicht präzise sagen, weil wir die genetische Grundlage der Kombination Hörstörung-Netzhautdystrophie-Zahnschmelzdefekte gerade erst gefunden haben. Es scheint aber, dass diese Patienten oft falsch als „Usher-Syndrom mit zusätzlichen Zahndefekten“ diagnostiziert werden. Das Usher-Syndrom ist allerdings eine eigenständige genetische Erkrankung, zu der die Hörstörung und die Netzhautdegeneration, nicht aber die Zahnauffälligkeiten, gehören. Die Häufigkeit des Usher-Syndroms wird auf 1/6.000 geschätzt. Die hier beschriebene durch PEX6-Mutationen verursachte Erkrankung, die als Variante des Refsum-Syndroms anzusehen ist, ist weit seltener. Ich gehe aber davon aus, dass sie aus dem bereits beschriebenen Grund einer falschen klinischen Einordnung unterdiagnostiziert ist. Man sollte diese Differentialdiagnose im Hinterkopf haben, wenn es scheinbar um ein Usher-Syndrom geht, und dann auch die Diagnostik nicht auf die elf für das Usher-Syndrom bekannten Gene begrenzen. Wenn zusätzlich noch frühe Schmelzdefekte der Zähne vorliegen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Mutationen in PEX6 oder einem anderen PEX-Gen vorliegen, hoch.
Stimmt es, dass die durch PEX6-Mutationen verursachte Erkrankung durch Diät günstig beeinflusst werden kann?
Bolz: Mutationen in Genen der PEX-Familie verursachen eine Störung bestimmter Zellbestandteile, der Peroxisomen. Dies führt bekanntermaßen zur Erhöhung von sehr langkettigen Fettsäuren und von Phytansäure im Blutplasma der Patienten. Phytansäure wird insbesondere durch den Verzehr von Rindfleisch und Milchprodukten aufgenommen. Weil es naheliegt, dass sich eine Phytansäure-arme Ernährung günstig auf den Krankheitsverlauf auswirken sollte, wird dies zuweilen praktiziert. Es gibt einige Berichte, die die Annahme eines positiven Effekts der Diät unterstützen. Der Effekt solcher Diäten wird aber noch besser abzuschätzen sein, wenn mehr Behandlungen engmaschig dokumentiert sein werden. Eine generelle Empfehlung existiert daher bislang meines Wissens nicht. Patienten, die eine Phytansäure-reduzierte Diät durchführen, sollten dies in Begleitung eines Arztes tun, der sich mit dieser seltenen Erkrankung auskennt.
Sollte im Sinne einer treffsicheren Augenerkrankungsdiagnose künftig immer ein Gentest durchgeführt werden?
Bolz: Vieles spricht dafür: Die Identifizierung der genetischen Ursache sagt viel darüber aus, ob der Patient in Zukunft mit zusätzlichen Problemen rechnen muss oder ob keine weiteren Krankheitssymptome zu befürchten sind. Stellt man etwa bei einem Kleinkind mit einer Hörstörung PEX6-Mutationen fest, so sind weitere Probleme wie Netzhautdegeneration, Ataxie, periphere Neuropathie und Leberfunktionsstörung in Zukunft wahrscheinlich. Das sind zunächst natürlich keine guten Nachrichten. Die Eltern des Kindes wissen aber dann, welche Fachärzte außer dem Augenarzt sie zusätzlich konsultieren müssen. Im Falle von PEX-Mutationen besteht darüber hinaus die Option, diätetisch zu versuchen, dem Krankheitsverlauf entgegenzuwirken.
Verspricht die Genforschung auch auf anderem Gebiet neue Therapie- oder Diagnosemöglichkeiten, z. B. beim Glaukom?
Bolz: Ja. Grundsätzlich trägt die Aufdeckung der genetischen Ursache einer Erkrankung zum besseren Verständnis des Entstehungsmechanismus bei. Es gibt einige Fälle, in denen man so einen direkten Ansatz für eine Therapie fand, beispielsweise durch Gabe längst für die Therapie anderer Krankheiten etablierter Medikamente. Sollten künftig „Genersatztherapien“, bei denen das defekte Gen von außen „zugegeben“ wird, breite Umsetzbarkeit erlangen, so wären die meisten genetisch bedingten Augenerkrankungen theoretisch behandelbar.
Kann man sagen, dass Sie als Spezialist für den hinteren Bereich des Auges (Retina/Sehnervenkopf) mit aufwendigeren Techniken und höheren Risiken arbeiten als Augenärzte, die im vorderen Bereich (Hornhaut/Linse) operieren?
Bolz: Mein Fachgebiet bezieht sich auf die erblichen Erkrankungen und ist mit operativen bzw. invasiv tätigen Fächern in dieser Hinsicht nicht vergleichbar. Als Fachärzte für Humangenetik beraten wir Betroffene und deren Familien. Wir versuchen, durch Gendiagnostik die erbliche Ursache einer Erkrankung zu identifizieren, und wir arbeiten, wie im Falle von PEX6, daran, neue Ursachen von Erbkrankheiten zu finden. Es ist wichtig, die richtigen Schlüsse aus Gentests zu ziehen und entsprechend zu beraten. Hinsichtlich invasiver Prozeduren gehen wir in der Regel über Blutentnahmen aus der Vene nicht hinaus. In der Humangenetik gibt es somit keine Eingriffsrisiken, die denen von Operationen vergleichbar wären.
Welche Augenkrankheiten haben Sie noch im Verdacht, durch Gendefekte entstanden zu sein?
Bolz: Man weiß heute ziemlich genau, welche Erkrankungen des Auges erblich bedingt sein können, und das sind sehr viele: die große Gruppe von Netzhauterkrankungen des peripheren und/ oder zentralen Bereichs (wie Retinitis pigmentosa und Zapfen-Stäbchen-Dystrophien), verschiedene Augenfehlbildungen, Linsentrübungen (Katarakt), Nachtblindheit, Farbsehstörungen, Optikusatrophie usw. Es gibt außerdem zahlreiche genetische Syndrome, wo also mehrere Organsysteme betroffen sind, die Augenerkrankungen beinhalten, wie z. B. Usher-, Bardet-Biedl-, Joubert- und Jeune-Syndrom.
Wie ist die auf Gentechnik fußende Augenheilkunde in Deutschland im internationalen Vergleich aufgestellt?
Prof. Bolz: Es gibt in Deutschland insbesondere an Universitäten einige Augenkliniken, die den genetisch bedingten Erkrankungen klinisch und wissenschaftlich einen hohen Stellenwert einräumen und eng mit Humangenetikern, sowie mit Patientengruppen zusammenarbeiten.
Wo besteht hinsichtlich dieser Augenkrankheiten in der Bevölkerung der größte Aufklärungsbedarf?
Bolz: Generell empfehle ich Patienten mit Netzhautdystrophien, sich von einem Humangenetiker beraten zu lassen. Diese Erkrankungen sind sehr selten und nicht jedem Arzt gut bekannt. In vielen Fällen überweisen niedergelassene Augenärzte solche Patienten an ihre humangenetischen Kollegen, die über ausreichende Erfahrungen mit diesen seltenen Fragestellungen verfügen. Humangenetiker und Augenärzte tun im Sinne der Patienten gut daran, bei diesen speziellen Erkrankungen eng zusammenzuarbeiten.
Wo besteht zum Thema „Behandlung von Gendefekten“ für die praktizierenden Ärzte der größte Nachholbedarf - welche Kenntnisse und Fähigkeiten müssten in der Weiterbildung vermittelt werden?
Bolz: Die Behandelbarkeit von genetischen Erkrankungen stellt heute noch die Ausnahme dar. Es ist wichtig, dass Patienten mit Verdacht auf genetisch bedingte Erkrankungen einem Humangenetiker und gegebenenfalls in einem Zentrum für seltene Erkrankungen vorgestellt werden, wo man auch die Informationen über neu verfügbare Therapien am schnellsten erhalten sollte. Die einzelne genetisch bedingte Erkrankung ist immer selten. Zusammen genommen jedoch sind diese Erkrankungen durchaus häufig und betreffen jedes medizinische Fachgebiet. Durch die fulminante technische Entwicklung in diesem Fach ist die Humangenetik, einst als exotisch wahrgenommen, längst in das Zentrum der Medizin gerückt. Dementsprechend sollten genetische Grundlagen in jeder Facharztausbildung vermittelt werden. Die Humangenetik ist bereits seit Jahren Teil des Gegenstandskatalogs im Medizinstudium und kann auch im Staatsexamen geprüft werden.
Sollten die Krankenkassen mehr für Präventionsmaßnahmen zahlen, und wo am sinnvollsten?
Bolz: Die Stellung der genetischen Diagnose kann, wie im Falle von PEX6, Anlass zu bestimmten Präventionsmaßnahmen geben. Darüberhinaus kann dies in erheblichem Maße Kosten einsparen helfen: Die Identifizierung der Krankheitsursache durch genetische Diagnostik, die mit den jetzt verfügbaren Techniken jetzt sehr häufig gelingt, kann teure und für den Patienten belastende Prozeduren wie Bildgebungen, Stoffwechselanalysen oder Stationsaufenthalte überflüssig machen.