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Spitzbergen - Unterwegs in der Heimat der Eisbären

Sandra Petrowitz war auf Expeditions-Kreuzfahrt weit nördlich des Polarkreises. Lesen Sie Ihren leidenschaftlichen Reisebericht!

Ein Eisbär! Aufregung macht sich auf der "Plancius" breit. Im Nu sind die Schlauchboote zu Wasser gelassen, stehen alle Passagiere abfahrbereit an der Gangway. Ein Zodiac nach dem anderen legt mit zehn Gästen an Bord ab in Richtung Strand. Dort trabt ein Eisbärweibchen gemächlich an der Wasserkante entlang. Der erste Eisbär der Reise aus so unmittelbarer Nähe! Die Schlauchboote folgen der Eisbärin langsam, parallel zum Ufer fahrend. Madame Eisbär guckt sich das Treiben aus kleinen dunklen Augen an, gähnt herzhaft - und tapst weiter. Wir sind für sie bei weitem nicht so interessant wie sie für uns. Wer nach Spitzbergen reist, will Eisbären sehen. An der Packeisgrenze rund um die Inselgruppe weit nördlich des Polarkreises leben mehr als 3.000 Tiere. Die weißen Bären sind wie keine andere Tierart zum Symbol für Klimaveränderungen geworden - und der Grund für viele Naturbegeisterte, das abgelegene Archipel zu besuchen. Obwohl hier auch Wale, Walrosse, Rentiere, Polarfüchse und jede Menge Vogelarten anzutreffen sind, obwohl grandiose Landschaften und das zauberhafte Licht der hohen Breitengrade die Besucher in den Bann ziehen, übertrifft die Erwartung, einem Eisbären zu begegnen, alles andere. Am Nachmittag unternehmen wir einen weiteren Schlauchboot-Ausflug, bei dem zunächst die Vogelbeobachter auf ihre Kosten kommen: Binnen kürzester Zeit erspähen wir Thorshühnchen, Küstenseeschwalben, Eismöwen, Eider- und Prachteiderenten sowie eine scheue Eisente. Etwa 30 Vogelarten brüten auf Spitzbergen, aber nur eine einzige überwintert auch auf der Insel: das Schneehuhn. Es schützt sich unter anderem mit einer Extra-Daunenschicht gegen die Kälte - die Federn des Schneehuhns haben zwei Kiele, von denen der kürzere, unten liegende mit zusätzlichen Daunen befiedert ist. Plötzlich knarzt das Funkgerät des Schlauchboot-Fahrers eine Nachricht: Eisbär! Genauer gesagt: Die Eisbärin von heute Morgen ist inzwischen am Rande einer Eisfläche in unmittelbarer Nähe angekommen. Sie treibt sich am Ufer herum, betrachtet ihr Spiegelbild im Wasser, legt sich in der Sonne nieder, den Kopf auf den Vorderpfoten, und betrachtet uns nachdenklich, die wir im Schlauchboot in einigen Metern Entfernung vor uns hin schaukeln. Als auch noch zwei Minkwale plötzlich neben uns auftauchen, kennt die Begeisterung fast keine Grenzen mehr.

Es lebe das Eisbärland! Spitzbergen per Expeditions-Kreuzfahrtschiff zu erkunden, hat viele Vorteile. Zum einen lassen sich so Gebiete erreichen, zu denen man anders gar keinen Zugang hätte oder die nur mit erheblichem Zeit- und Logistikaufwand erreichbar wären. Zum anderen bietet das "schwimmende Basislager" nicht nur den Komfort eines Hotels (mit dem charmanten Vorteil, die ganze Insel zu umrunden, ohne einmal die Unterkunft wechseln zu müssen), sondern auch die Möglichkeit, direkt bis an die Packeisgrenze heranzufahren - das erhöht die Chancen auf eine Eisbären-Sichtung erheblich. Und außerdem lassen sich so, bevorzugt über Nacht, vergleichsweise große Strecken zurücklegen. Dabei haben Expeditions-Kreuzfahrten wenig mit "klassischen" Kreuzfahrten gemein - auf den kleinen Schiffen, die manchmal nur 50, manchmal 100 Passagiere beherbergen, steht das unmittelbare Naturerlebnis im Vordergrund. Das Schiffsleben spielt sich vorzugsweise an Deck oder in der Observation Lounge mit Panoramablick ab, Fleece- und Membranjacken dominieren das Bild, Schuhwerk der Wahl ist der Gummistiefel, und statt Goldkettchen trägt man Fernglas oder Kamera um den Hals. Für Spannung sorgt die unermüdliche Natur mit ihren Einfällen und Kostbarkeiten, für Entspannung das gute Gefühl, auf einem kleinen Schiff voller Gleichgesinnter unterwegs zu sein. Das Expeditionsteam, bestehend aus erfahrenen Spitzbergen-Experten, kümmert sich um das Programm, das täglich mehrere Aktivitäten vorsieht: Anlandungen mit Spaziergängen und Wanderungen, Schlauchboot-Ausfahrten oder Kajak-Ausflüge. Arktiserprobte Wissenschaftler teilen ihr Wissen bei Vorträgen und im gemütlichen Plausch mit ihren Gästen, ganz gleich, ob diese etwas zu Eisbären oder Papageitauchern, zur Geologie oder zur Pflanzenwelt Spitzbergens wissen möchten. Auch das Schiff selbst hat eine Vergangenheit im Dienste der Wissenschaft - die "Plancius", benannt nach dem flandrischen Theologen, Astronomen und Geografen Petrus Plancius, befuhr die Meere zunächst als ozeanografisches Forschungsschiff im Dienste der Königlichen Niederländischen Marine, ehe sie 2009 zum Expeditions-Kreuzfahrtschiff umgebaut wurde. Seither ist sie in arktischen und antarktischen Gewässern zu Hause.

Die Hinlopenstretet trennt Spitzbergen von der großen, nordöstlich gelegenen Insel Nordaustlandet. Wir sind auf der Suche nach Walrossen. Bei kabbeliger See machen wir uns in den Schlauchbooten auf zum Strand von Torellneset, wo sich eine große Walrosskolonie befindet. Als wir uns gerade einen Weg durch die in der Bucht schwimmenden Eisberge bahnen, tauchen die ersten Walrossköpfe direkt neben dem Boot auf. Das Geräusch der Bootsmotoren hat sechs der neugierigen Geschöpfe herbeigelockt, und nun sehen sie sich ihre seltsamen Besucher aus der Nähe an. Die Besucher wiederum, kaum an Land, reihen sich am Strand auf, um die Walrosse zu fotografieren, die in wenigen Metern Entfernung auftauchen, sich umschauen, abdrehen und wieder abtauchen, immer von Neuem, so als wollten sie Kontakt aufnehmen, trauten sich aber nicht recht. Zuletzt hätten wir die massigen, dunklen Leiber fast mit der Hand berühren können, so klein war der Abstand zwischen Mensch und Tier geworden. Ursprünglich war auf dieser Reise eine Umrundung Spitzbergens geplant. Doch den Weiterweg gen Süden blockiert um diese Jahreszeit noch das Eis.

Wir müssen umkehren - auf Spitzbergen hat die Natur das Sagen. Für den nächsten Morgen ist ein Schlauchbootausflug zum Vogelfelsen Alkefjellet vorgesehen. Doch starker Wind und hoher Seegang vereiteln dieses Vorhaben. Stattdessen führt der Kapitän die "Plancius" vorsichtig relativ nahe an die steil aufragenden Felsen heran, auf denen Abertausende Dickschnabellummen brüten. Am Nachmittag überqueren wir, nordwärts steuernd, den 80. Breitengrad. Das ganze Schiff widmet sich einer einzigen Aufgabe: Eisbären finden! Und schließlich hat der kollektive Dauereinsatz von Ferngläsern und Teleobjektiven Erfolg: Ein Schatten schleicht über das makellose Weiß - ein großes Eisbärmännchen ist auf der Suche nach seiner Lieblingsspeise, den Robben. Es beginnt zu schneien. Die Flocken tanzen, der Eisbär ist nicht mehr als ein Schemen im Schneewirbel. Er geht ein paar Meter, setzt sich hin, betrachtet seine Pfoten, steht wieder auf, trabt ein Stückchen weiter, legt sich der Länge nach in den Schnee und fischt mit den Tatzen in der Luft. Wir sind in diesem Moment die geduldigsten Menschen nördlich von Longyearbyen - wenn nur der Eisbär noch näher käme... Kommt er aber nicht. Dennoch meint es die Natur gut mit uns: Wenig später taucht ein zweiter Eisbär aus dem Schneegestöber auf; das Schiff scheint ihn zu interessieren, und er wandert heran, um es sich anzusehen. Dann trollt er sich entlang der Eiskante, und das große Schiff folgt ihm gemächlich. Nur wenige Meter vom "König der Arktis" entfernt gleiten wir durchs Wasser. Es lebe das Eisbärland!