• Januar 17, 2022
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Seehund an Bord

Das Forschungsinstitut Marine Science Center in Warnemünde

Es ist sieben Uhr in Warnemünde. Schlaftrunken schiebt sich Seehund Marco auf das Wasser zu. Schwerfällig lässt er sich in das kühle Nass fallen. Mit seinen 26 Jahren ist er der älteste Bewohner des Marine Science Centers. Und fast blind. Auch sein Gehör ist nicht mehr das Beste.

Doch im Wasser wirkt Marco um Jahre jünger. Er schwimmt motiviert seine morgendlichen Runden in dem 60 mal 30 m - Becken. Aufgeregt begrüßt er Trainerin Nele Gläser und wartet auf frischen Fisch. Sie lächelt über seinen Tatendrang: "Unsere graue Eminenz kann auch sehr starrsinnig sein. Hat er keine Lust, reagiert er einfach nicht auf Zurufe, und das hat dann nichts mit seinem schlechten Gehör zu tun."

Das Forschungsinstitut Marine Science Center in Warnemünde ist die weltweit größte Einrichtung ihrer Art. Ein zweistöckiges, umgebautes Passagierschiff inmitten des Robbenbeckens direkt an der Ostseeküste dient der Crew als Forschungssitz. Neun verspielte Seehunde haben hier ein Zuhause gefunden. Sieben Biologen, Verhaltensforscher und Physiker untersuchen in der Arbeitsgruppe für sensorische und kognitive Ökologie die Sinneswahrnehmung und Unterwasserorientierung dieser besonderen Tiere. Über Beobachtungen, Analysen und Langzeitstudien des Verhaltens der Seehunde unter bestimmten Bedingungen können Rückschlüsse auf ihre Orientierungsfähigkeit im offenen Meer gezogen werden. Auch Parallelen und Unterschiede zum Verhalten anderer Meeressäuger ergeben sich aus den Untersuchungsergebnissen.

Der grau-schwarze Moe mit seinem hellbraunen Bauch ist der Jüngste seiner Art im Forschungsinstitut. Zwei Jahre ist er alt und sehr schwer zu bändigen. Sein Übermut bringt die ganze Gruppe durcheinander. Frech zwickt er Luca in die Schwanzflosse, als dieser an Bord klettert, um eine kleine Siesta zu halten. "Unser kleiner Schelm, er will immer im Mittelpunkt stehen. Wenn ich mich mit einem anderen Seehund beschäftige, klatscht er verärgert mit seiner Flosse auf die Wasseroberfläche oder kratzt an Schwimmkörpern", erklärt Biologieprofessor Guido Dehnhardt. Er arbeitet seit über 20 Jahren mit Meeressäugetieren. Die Ergebnisse der Forschungsarbeit im ehemaligen Eisbärengehege des Kölner Zoos stellten ihn nicht zufrieden, sodass er Ausschau nach einem Standort mit realitätsnäheren Bedingungen hielt. Die Suche nach dem optimalen Forschungssitz endete, hier in Warnemünde an der Ostsee auf dem Gelände der Jachthafenresidenz "Hohe Düne". Im Mai 2008 zogen die neun Kölner Robben und sein Stammteam mit ihm auf das Schiff.

Der finanzielle Zuspruch von 1.5 Millionen Euro der Stiftungsprofessur Volkswagen ermöglichte die Umsiedelung nach Warnemünde und sicherte die Grundfinanzierung der Forschungsarbeiten für die ersten fünf Jahre. Durch Spenden und Projektförderungen wie durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) erhält das Institut weitere finanzielle Unterstützung. Die Zusammenarbeit mit dem Institut für Biowissenschaften der Universität Rostock ermöglicht Praktikanten, Studenten und Diplomanden die praktische Umsetzung ihrer theoretischen Grundkenntnisse im Bereich der Zoologie. Das Trainingsprogramm im Rahmen der Forschung bestimmt den Tagesablauf der Tiere.

Mit verbundenen Augen sollen Luca, Moe, Marco und die sechs anderen Robben erkennen, aus welcher Richtung ein ferngesteuertes kleines U-Boot kommt. Sie setzen dazu ihre Barthaare ein, um die Wasserbewegung einzuschätzen. Experimente dieser Art lassen Rückschlüsse auf die Orientierungsfähigkeit im offenen Meer zu. Und die Tiere lernen auf diesem Weg, in Gefahrensituationen schnell und richtig zu reagieren. Die Orientierung im natürlichen Lebensraum wird auch durch ein Planetarium geschult. Im nächtlichen Meer orientieren sich die cleveren Tiere am Himmel. "Unsere Testreihe hat ergeben, dass sich unsere Seehunde besser an den Sternbildern orientieren als Zugvögel", berichtet die diplomierte Psychologin Nele Gläser begeistert. In Zukunft werden die Robben mit Sendern ausgestattet, um Versuche im offenen Meer durchzuführen. Nele Gläser ist jetzt schon gespannt: "Wir arbeiten aktiv mit den Seehunden, und ich bin schon neugierig, was die Versuchsreihe in der natürlichen Umgebung ergeben wird."

Das Institut expandiert und hat große Pläne. Die Zahl der zu betreuenden Robben wird von neun auf 15 Tiere steigen. Regelmäßig sollen Seminare zum Thema "Sinnessysteme und Orientierung im natürlichen Lebensraum" stattfinden. Auch einen regen weltweiten Erfahrungsaustausch mit Wissenschaftlern kann sich die Diplompsychologin und Doktorandin Nele Gläser vorstellen: "Eine weltweite Zusammenarbeit ermöglicht ein bestmögliches Verständnis für das Verhalten der Tiere."

Interessierte Besucher können sich den besonderen Lebensraum der Seehunde anschauen, können sie beim Schwimmen und im verspielten, manchmal eifersüchtigen Verhalten zueinander bestaunen. Am anschaulichen Training der maritimen Tiere können die Gäste teilhaben. Ein unvergessliches Erlebnis für Groß und Klein ...